Radtour im Atoll-Alltag

Jahrzehntelang war es streng verboten. Jetzt dürfen Touristen auf den Malediven erstmals Inseln der Einheimischen besuchen. Auf dem Addu-Atoll sogar mit dem Fahrrad.

Ahmad Hasan streckt seinen großen Zeh in die Luft. Und schlingt eine dünne, weiße Schnur herum. Als wäre es die leichteste Übung der Welt für einen 78-Jährigen, lässt er mit flinken Fingern erst ein Holzschiffchen durch das Schnurgeflecht an seinem Fuß sausen, dann ein Messer. Netze flicken heißt diese akrobatische Übung im selbst gebauten Liegestuhl. Fischer Ahmad knüpft seine Netze auch selbst – in monatelanger Arbeit, und das seit mehr als 60 Jahren.

Ahmad hat nur noch drei Zähne im Mund und sieht auch sonst nicht mehr ganz jung aus, „doch eine Brille brauche ich nicht“, sagt er stolz. Der alte Mann von der zwei Kilometer langen Insel Maradhoo im Addu-Atoll spricht Englisch, denn er hat die Zeit miterlebt, als die Malediven noch britisches Protektorat waren. Ende der 70er-Jahre sind die Briten von der Nachbarinsel Gan abgezogen. Jetzt erobern Touristen das südlichste Atoll der Malediven – mit dem Fahrrad. Ein Novum auf den 1190 Inseln im Indischen Ozean.    

Radtour im Atollalltag auf den Malediven

 

Radtour im Atollalltag auf den Malediven

 

Wenn Inseln Händchen halten

Mit dem Ex-Präsidenten Mohamed Nasheed wurde die strikte Unterteilung in Inseln für Einheimische und reine Touristeninseln gelockert. Bis zur Ablösung des 30 Jahre lang wie ein Diktator herrschenden Maumoon Abdul Gayoom im Jahr 2008 durften Ausländer nur mit Sondergenehmigung die „local islands“ betreten. Vor der befürchteten Verfremdung der Kultur des muslimischen Landes durch den Kontakt von Touristen mit Einheimischen, fürchtete sich der Nasheed nicht mehr. Er sagte: „In einer zunehmend vernetzten Welt macht diese Einschränkung keinen Sinn mehr.“ Der alte Fischer aus Maradhoo lacht darüber. „Ja, ja, seit dem sind hier ein paar Touristen auf Fahrrädern unterwegs.“ Kein alltäglicher Anblick auf den Malediven.


Denn die meisten der rund 200 bewohnten Inseln haben überhaupt keine Straßen, weil sie schlichtweg zu klein für jede Art von Verkehr sind. Lediglich auf der Hauptinsel Male und der Insel Fuvamullah gibt es Teerstraßen und ein paar Autos. Ahmad Hasans Insel Maradhoo ist mit zwei Kilometern Länge auch nicht gerade groß. Doch sie ist durch Dämme mit zwei Nachbarinseln verbunden. Eine Nachbarin verfügt wiederum über einen Damm zur nächsten Insel. Fünf Inseln halten auf diese Weise Händchen und bilden ein Kette mit der längsten Straße der Malediven: 17 Kilometer lang. Asphaltiert. Eine stolze Länge für ein Land, dessen Fläche zu 99 Prozent aus Wasser besteht. Eine perfekte Länge fürs Inselhüpfen mit einem klapprigen Fahrrad.

Radtour im Atollalltag auf den Malediven

 

Radtour im Atollalltag auf den Malediven

 

Chinesisches Rad ohne Vorderbremse

Das türkisgrüne Wasser ist immer und überall da. Egal, in welche Sandstraße der Radler einbiegt. Wenn der alte Fischer aus seinem selbst gezimmerten Liegestuhl aus sechs Holzstöcken und einem Fischernetz aufsteht, sieht er auch das Meer. Nach links mögen es rund 100 Meter sein, und es leuchtet türkis, nach rechts keine 50 Meter, und der weiße Sand sticht in die Augen. Eine sanfte Brise streicht durchs Haar und versucht den Schweiß zu trocknen, den die erbarmungslose Äquatorsonne von der Stirn tropfen lässt – selbst beim langsamen Treten in die Pedale. Schneller geht es sowieso nicht. Das Fahrrad sieht zwar aus wie ein Hollandrad, ist aber chinesischer Bauart inklusive ein paar Schönheitsfehlern wie nicht funktionierender Vorderbremse. Es ächzt und krächzt, umkurvt aber tapfer die großen Pfützen auf der Nebenstraße.

Mittagessen auf Maradhoo: frisch gefangener Thunfisch

Ein Huhn rennt an dem exotischen Fahrradtrupp vorbei und gackert schrill. Kinder gucken neugierig aus bunten Hauseingängen, winken schüchtern. Blätter von Bananenstauden hängen über gemauerte Zäune. Ein Mann im traditionellen Wickelrock biegt um die Ecke mit einem Thunfisch in der Hand. „Zwei Euro hat der Thunfisch gekostet, 2,5 Kilogramm schwer“, erzählt er.

Gekauft hat er den metallisch glänzenden Fisch drüben am Hafen direkt von einem Fischerboot. Eine kleine Traube von Männern umringt das rote Boot. Einer lädt Thunfische in einen Schubkarren. Ein anderer mit Zigarette im Mundwinkel nimmt die oberschenkelgroßen Tiere gleich auf dem Boot aus. Keine zwei Minuten dauert es, und er reicht die roten Filets, die wie saftige Steaks aussehen, an Land. Klingt ganz nach Idylle aus dem Malediven-Bilderbuch. Wenn da nur nicht die Tatsache wäre, dass die Malediven zu den ärmsten Ländern der Welt zählen. Nach Angaben der Demokratischen Partei lebten noch vor fünf Jahren 42 Prozent der rund 400 000 Malediver von weniger als 1,17 US-Dollar am Tag.

Radtour im Atollalltag auf den Malediven

 


Radtour im Atollalltag auf den Malediven

 


Fischfang immer schwieriger

Fischer Ahmad geht es im Vergleich besser. Er kommt auf 100 Euro im Monat, „das ist die Rente, die ich von der Regierung kriege, weil ich früher einen Regierungsjob hatte“. „Und zum Fischen gehe ich ja auch noch.“ Seine elf Kinder wollen von der traditionellen Fischerei nichts wissen. Ahmad schüttelt den Kopf. Seine Kinder arbeiten alle in Hotelresorts, eineinhalb Flugstunden entfernt, im Male-Atoll. „Denn es ist sehr schwierig geworden, Fische zu fangen“, seufzt er. „Vor 20 Jahren sind wir immer an die gleiche Stelle gefahren, und immer gab es genug Fische. Heute muss man nach ihnen suchen.“ Für den drahtigen Mittsiebziger aus Maradhoo steht der Grund des Fischrückgangs fest: die aus Sand gebauten Dämme, die die fünf Inseln im Addu-Atoll verbinden.


Text & Bilder von Michaela Strassmair

Hinweis: Die Autorin recherchierte mit Unterstützung des Shangri-Las Villingili Resort & Spa.